Im Gespräch mit Jagoda Marinić: Gegen die Verrechtsung der Welt!

Scroll Down → ← Scroll Up
14. Juni 2018Juliane Noßack

Jagoda Marinić ist Autorin, Publizistin und Kulturmanagerin. Zuletzt erschien 2016 ihr Buch »Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?«, in dem sie über ein Einwanderungsland schreibt, das nie eines sein wollte und die Frage nach einer »Integrationskultur« als Konsequenz der »Willkommenskultur« stellt. Für »Ängst is now a Weltanschauung« wird Jagoda Marinić heute in ihrer Keynote Lecture über die »Verrechtsung der Welt« sprechen. Im Interview redeten wir vorab über Parallelgesellschaften, politisches Engagement in der Literatur und darüber, was jede_r Einzelne von uns tun kann gegen den Rechtsruck.

konferenz-foto-sabrina-richmann-45-800x532-q92
Foto: Sabrina Richmann

Juliane: Ihre Keynote Lecture trägt den Titel »Gegen die Verrechtsung der Welt! – Von funktionalen und dysfunktionalen Parallelgesellschaften«. An welche Parallelgesellschaften denken Sie dabei konkret?

Jagoda Marinić: Zunächst einmal will ich die Absurdität des Begriffs »Parallelgesellschaft« mit dem Zusatz »funktional« und »dysfunktional« vorführen. »Parallelgesellschaft« ist ja im deutschen Diskurs ein Erpressungsbegriff geworden, das Horroroszenario schlechthin. All das, was deutsche Touristen in Großstädten weltweit genießen, nämlich Little Italy, China Town etc. ist im eigenen Land zum Synonym für verfehlte Integration geworden. Dabei wird das ethnisch aufgezogen: Hier spricht man kein Deutsch, hier sieht es aus wie in Klein-Istanbul etc.
Dann wird es problematisiert: Warum hat hier Integration nicht stattgefunden? Nur wenige fragen noch nach der sozialen Selektion, die manche dieser Ghettoisierungen hervorgebracht hat.

Um welche Selektionen handelt es sich dabei?

Man dachte einmal: »Packt die Ausländer doch lieber in eine Ecke miteinander, dann mischen sie sich nicht so unters Volk.« Man sprach dann früher gerne von sozialem Sprengstoff in »Türkenvierteln«. Alles dysfunktional. Gleichzeitig merkt man, spätestens seit Pegida marschiert, dass es noch so manch andere Parallelgesellschaften gibt, die auch nicht mit den gesellschaftlichen Veränderungen mitgegangen sind. Sind die nun auch schon dysfunktional oder funktionieren die noch gut? Völlig ignoriert werden homogene Parallelgesellschaften, in denen sehr wenig Diversität herrscht. Die OECED bescheinigt beispielsweise deutschen Verwaltungen immer wieder, das internationale Schlusslicht in Sachen Diversität zu bilden. Eine homogene Verwaltung, die jedoch ihre Bevölkerung nicht repräsentiert, ist ebenso wie eine Regierung im Grunde eine Parallelgesellschaft zur gesellschaftlichen Normalität. Das bewertet man dann aber als besonders »funktional«. Nach dem Motto: Dort, wo es ist wie früher, ist die Welt noch heil. Dabei könnte das doch mindestens genauso problematisch sein, dass man nicht mit der Zeit geht, und auf sie einzugehen weiß, sondern sich einmauert.

Wie kann dieser Parallelität entgegengewirkt werden?

In einer pluralen Demokratie und vielfältigen Gesellschaft wie Deutschland muss man endlich aufhören mit Kampfbegriffen wie »Parallelgesellschaft« zu arbeiten und von der Parallelität als Normalität ausgehen. Die Frage ist: Welche Schnittmengen werden den verschiednen Milieus geboten, was hält sie zusammen? Und auch: Wie viel Ruhe brauchen sie voreinander, um friedlich zu koexistieren? Ich halte es für einen Irrtum, dass man alle ständig miteinander in den Dialog bringen will. Diese Erschöpfung, die sich durch den ständigen Abgleich einstellt, hält niemand auf Dauer aus, ohne sich überfordert zu fühlen.

Welchen Stellenwert nimmt dann Sprache als mögliche Brücke weg von der Parallelität und hin zur Normalität für Sie ein?

Wie gesagt, ich sehe Parallelität nicht als Gegensatz zu Normalität. Im Gegenteil. Mir geht es um die Fähigkeiten, parallel ablaufende Gegenwarten zu erkennen und auszuhalten. In Deutschland wird Sprache ja gerne als Brücke behauptet: Deutsch muss man können. Gleichzeitig ist Mehrsprachigkeit kaum Thema: Weshalb wird oft Krieg geführt gegen die Mehrsprachigkeit? Sprache wird reduziert darauf, Integrationsmotor und Prüfungsgegenstand zu sein: »Darauf werden wir uns jetzt wohl noch einigen können, dass Deutsch gesprochen werden muss«. Warum nicht »kann«? Warum nicht sagen: »Darauf werden wir uns einigen können, dass Deutsch gesprochen werden kann«. Vom Reiz einer Sprache ausgehen, von der Lust am Sprechen. Nur: Welche Sprache haben wir überhaupt noch?

Welche Art von Sprache dominiert Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren besonders den politischen Diskurs?

Ich lese immer wieder in »Ketzererfahrungen«, ein Buch des italienischen Filmemachers Pier Paolo Pasolini, weil er ein so klares Feindbild hat: Die technokratische Sprache. Wie viel Normalität ist in einer Sprache noch möglich, die sich dermaßen zum Diener einer technokratisierten Gesellschaft gemacht hat? Die Art, wie die Konsumgesellschaft die Sprache selbst konsumiert hat. Er war natürlich radikal, wenn er von einem Faschismus der Industrialisierung sprach, der auch über die Sprache in unser Bewusstsein eingezogen ist, aber man muss manchmal auf einem radikalen Standpunkt stehen, um überhaupt zu sehen. Er sagt, dieses industrielle Denken hat den Menschen zum Verschwinden gebracht.

In welcher Form gestaltet dann Sprache die Einwanderungsdebatte mit?

Nehmen wir das Thema »Ankerzentren«. Wir verhandeln technokratisch die großen Herausforderungen der Menschheit und sprechen über die Funktionalität einzelner Lösungsvorschläge. Ist das Sprache? Ist das eine Gespräch mit der sogenannten Gesellschaft? Was ist dieses Gespräch überhaupt? Von wem kann es überhaupt geführt werden? Es wird jetzt viel gegen Talkshows gewettert, vor allen wegen des Framings. Ich frage mich: Sind sie wirklich nur das Problem oder nicht vor allem auch ein Symptom, an dem sich unsere reduzierte Sprache herauskristallisiert? Wie viel von den Bedingungen des Menschseins ist mit der Sprache, wie wir sie im Diskurs pflegen, noch auszudrücken? Bücher? Philipp Roth sagte zuletzt, in dreißig Jahren werden Bücher ein Phänomen sein in der Dimension von Lyrik. Wenn »Sprache« tagtäglich auf ihre Nützlichkeit im Hinblick auf Verfahren, Optimierung und Organisation des Gesellschaftlichen reduziert wird, was für ein Menschen- und Weltbild lässt sich dann noch vermitteln? Welche Probleme lassen sich so noch lösen? Als Gauland sagte, man müsse eine deutsche Politikerin mit türkischen Vorfahren in Anatolien »entsorgen« – war das nicht nur eine absolute Grenzüberschreitung, sondern auch Sinnbild dafür, wie das Menschliche aus dem Sprachgebrauch eliminiert wird. Selbst Rechte sagen im Jahr 2018 nicht mehr direkt: »Raus mit denen!« Nein, jetzt soll fein technokratisch »entsorgt« werden. Diese Form der sprachlichen Kälte könnte gefährlich sein, weil sie auf saubere Prozesse macht: Verfahrenslogik noch im Hass.

Wie können wir – jeder Einzelne / jede Einzelne – dieser Entwicklung und dem technokratischen Sprachgebrauch entgegenwirken?

Schön, dass Sie die Frage nach dem einzelnen Mensch stellen. Es wird ja zunehmend vom »Wir« geredet und vom Kollektiven, von »der Gemeinschaft«.
Nur, was kann eine Gemeinschaft ohne den Einzelnen, aus dem sie besteht? Es geht heute bei jedem Einzelnen darum, sich Freiräume zu schaffen: Wie und wo kann ich mich dem Ganzen entziehen?
Wie entzieht man sich dem Nützlichkeitsprinzip? Die Bedrohung durch Künstliche Intelligenz ist für viele doch auch deshalb so immens, weil sie sich ihren Wert als Mensch nicht ohne Nützlichkeit denken können. Flüchtlinge werden dann eher akzeptiert, wenn sie Fachkräfte sind, also nützlich. Es ist, als wäre die Kategorie »Mensch« abgeschafft worden. Die Verletzbarkeit des Menschen ist unerträglich geworden im Zeitalter des Optimierens, Wachsens, des Fortschritts. Ich kann nur als Mensch reden, wenn ich den Raum habe, Mensch zu sein. Der Umgang mit Alten und Kranken zeigt ja, dass wir allem, was nicht Leistung und Perfektion ist, wenig abgewinnen können. Es müssen also Räume her, in denen man nicht funktionieren muss. Nur muss ich mich erst organisieren, um diese Räume zu schaffen – und schon bin ich wieder in der Leistungsspirale: Jetzt organisieren wir einmal die Leistungsverweigerung (lacht).
Es müsste wieder mehr Bartlebys geben: I prefer not to. Aus einer wirklichen Verweigerung heraus. Aber die Verweigerung ist ja irgendwie aus der Mode gekommen, was auch nur zeigt, dass der Verweigerer heute nicht mehr daran glaubt, noch Teil des Systems bleiben zu dürfen. Würde sich eine Gesellschaft heute – wie damals von zum Beispiel Thomas Bernhard – beschimpfen lassen? In all den Beschimpfungen war da ja noch ein Grundvertrauen, auch als Außenseiter dazuzugehören. Weit am Rand, aber Teil der Gesellschaft, der ich mich verweigern will. Der Einzelne konnte also riskieren … und er könnte Arno Gruen lesen.

Literatur kann also hilfreich sein in diesem Diskurs?

Ich will eigentlich nicht, dass Literatur hilfreich ist. Sie soll einfach sein. Indem sie all das ist, was sie sein kann, bildet sie doch schon eine Gegenwelt zu diesem Irrsinn. Jetzt auf die Nützlichkeitsdebatte hereinzufallen, hieße ja, das Seelenleben auch aus der Literatur zu vertreiben. Es gibt dieses unglaubliche, einfache Gedicht der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska, »Etwas über die Seele«. Da heißt es: »Die Seele hat man gelegentlich. / Niemand hat sie ohne Unterlass / und auf Dauer. // Tag um Tag, / Jahr um Jahr / kann ohne sie vergehen. / Nur in der Begeisterung / und in den Ängsten der Kindheit / nistet sie sich manchmal auf länger ein.«

Wie sollten sich Autor_innen also engagieren?

Autoren sollen sich als Bürger engagieren, wie alle anderen auch. Und als Literaten sollten sie so radikal und ehrlich mit sich, ihren Themen und ihrem Schreiben umgehen, wie sie können, in einer Zeit, in der man auch schreibend alles Bedienen können soll, was der zeitgemäße Markt so braucht, damit man überhaupt gehört wird. Ich habe letztes Jahr von Arundhati Roy bei ihrer Lesung in Berlin folgenden interessanten Gedanken gehört: Warum wird derzeit so eine Mühe gemacht, zwischen Aktivisten und Autoren zu unterscheiden? Autoren seien ohnehin dem Menschlichen verpflichtet, ohne Empathie könne man nicht von Menschen erzählen. Ich habe das etwa so verstanden: Ich muss das Böse wie das Gute verstehen, um es erzählen zu können. Sobald ich es in dieser Tiefe unterscheiden kann, ist es naheliegend, dass ich nicht das Böse suchen werde. Natürlich weckt das tausend Widerspruchsimpulse, Schreiben macht aus niemandem einen besseren Menschen. Aber dieser Ansatz von Roy, der Suche nach dem Menschlichen, das erzählt werden kann, eine gesellschaftliche Kraft zuzutrauen, ohne dass diese explizit engagiert sein müsste oder intendiert wäre, das halte ich für interessant. Eine Kraft, die durch die Repräsentation der Welt in Geschichten entsteht. Gerade in einem Land wie Deutschland, das geprägt ist von der Idee, dass politisches Engagement die Kunst töten könne, weil man sich mit einer Sache gemein mache, ist das interessant.

Wie sehen Sie das Verhältnis von Kunst und Politik?

Neulich sagte der Autor Michael Köhlmeier in einem Interview mit Armin Wolf, Böll habe seinem politischen Engagement die Literatur geopfert. Er selbst würde lieber einen verdammt guten Roman schreiben. Genau dieses Schwarzweißdenken müsste man in den nächsten Generationen auflösen: Du wirst nicht schlechter schreiben, nur weil du dich engagierst. Und auch nicht besser. Natürlich ist da die Frage, wie sehr man als Schreibender der Welt um sich herum verpflichtet sein möchte – sollte man nicht besser in der wenigen Zeit, die man hat, schreiben? Für viele in Deutschland ist dieses Spitzweg-Bild vom armen Poeten ja das Sinnbild des Dichters: So ein ständig an einem Virus vorbeischrammender Tunichtsgut, der sich nicht einmal eine Dachkammer ohne Löcher im Dach leisten kann. Das langweilt mich so: Diese deutsche Romantik, die sich meint aus allem heraushalten zu dürfen und lieber Schmachtgedichte schreibt statt einmal nachts zu der Geliebten zu gehen, und sei’s barfuß.

Sehen Sie darin ein typisch deutsches Problem?

Kaum ein anderes Land hat die Autoren so zu Außenseitern gemacht wie Deutschland. Irgendwie wurden sie im Kulturbetrieb versorgt, wie in einer kleinen Versorgungsanstalt für die Sensiblen. Aber eine Gesellschaft braucht ihre Sensiblen und sie sollte ihre Bücher besser kaufen und verkaufen und vor allem lesen. Das ist doch international nicht tragbar, genausowenig wie die Argumentation, die Precht einmal im Spiegel präsentierte: Deutschland hätte sich so auf seine Autoren verlassen müssen, weil nach dem Krieg alle anderen Intellektuellen ausgewandert seien. Als könnten Autoren nur fabulieren, als steckte da nicht eine Wahrheit in dieser Erzählkunst, die Erkenntnis vermittelt. Wissen Sie, welche Künstler weltweit am meisten verfolgt werden: Musiker. Interessant, oder? Es ist nicht die schneidende Analyse, die Diktatoren am meisten fürchten, sondern dass etwas zu diesem Menschensein durchdringt, dass uns daran erinnert, was Mensch zu sein bedeuten könnte. Diese Freiheit.
Auch national ist das doch eher seltsam, dass Schreibende sich raushalten sollen: Goethe hatte ständig mit der Welt um sich herum zu tun und zu kämpfen. Der Schweizer Gottfried Keller arbeitete in einer Verwaltung. Man muss nicht aus den eigenen Schreibblockaden den Stoff ziehen, man darf ruhig in den Kampf mit dem Leben ziehen. Und ja, es ist durchaus eine Form von Kampf, sich als sensibler Mensch dieser Welt auszusetzen.

Welche Autor_innen sind für Sie heute wegweisend, wenn es um Engagement geht?

Ich lese sehr gern lateinamerikanische Autoren. Vargas Llosa, mag man seine Positionen finden wie man will, doch er meinte als Romancier sogar tauglich für das Präsidentenamt zu sein. Die Wähler fanden das nicht, aber der Mut hatte etwas. Julio Cortazar arbeitete als Übersetzer bei der UNO, sein Schreiben war auch ein Kampf gegen die Diktatur in Argentinien. Er hat sich dafür nicht organisiert. Er hat Geschichten geschrieben, die jedem, der sie liest, zeigen, dass Denken nicht kontrolliert werden kann, dass geliebt wird auch in Zeiten der Repression und dass uns Menschen niemand die Sehnsucht nehmen kann: Nach Liebe, dem Leben oder einem anderen, einem besseren Dasein.

Und welche Lektüren ganz allgemein sind für Sie unabdingbar in dieser Debatte?

Arno Gruens »Der Fremde in uns«, wenn man Analyse mag. Lobo Antunes, wenn man Prosa mag, die sich liest wie Lyrik. Was ich nicht lesen würde, sind Bücher wie »Mit Rechten reden«. Ich weiß gar nicht, wie das gehen sollte, nicht mit ihnen zu reden. Jeder normale Mensch ist mit ihnen aufgewachsen. Sie sind doch überall. Auffällig ist, dass in den Künsten viele Liberale sind. Bis vor kurzem dachte ich, durch den Umgang mit den Ungewissheiten, die so ein kreativer Prozess mit sich bringt, sind Kreative stärker im Umgang mit Unkontrollierbaren. Dann kam diese rechte Erklärung der rechten Autoren und erinnerte mich daran, dass es auch Ausnahmen gibt. Andererseits wusste ich plötzlich, weshalb ich deren Bücher auch schon nie gern gelesen hatte: So viel Kontrolle. Einer meiner Lieblingsschauspieler, Rade Serbedzija, sagte einmal in etwa: Kunst könne nicht rechts sein, denn das Rechte sei Kontrolle, Autorität, Gehorsam. Das seien alles Züge, auf die Kreativität nicht anzuwenden sei. Kreativ gehorsam? Es wäre lächerlich. Vielleicht wäre es wichtig, dass wir die Angst von ihrer derzeitigen lächerlichen Ausdrucksform befreien. Es wäre ja schon viel, wenn man vorleben könnte, wieder kreativ ängstlich zu sein.

Welche Erwartungen haben Sie nun an die Literaturkonferenz »Ängst is now a Weltanschauung«?

Feudige Erwartung. Ich bin ja ständig auf Konferenzen zu diesen Themen. Doch »Ängst is now a Weltanschauung« schließt eine Lücke. Es ist ärgerlich, wie in den letzten Jahren die Stimmen rechter Autoren und Denker noch mehr verstärkt wurden als ohnehin, als hätten sie nach wie vor mehr Relevanz. Als Begründung für den erhöhten Nachrichtenwert, den man ihnen beimisst, hört man dann: Das sei ja irgendwie »das Neue«. Nein, ist es nicht. Es ist das Uralte. Es ist die alte Bundesrepublik, die uns mit ihren tödlich langweiligen Familiensonntagen eine Idylle vorspielte, die es schon damals nicht gab. Unter den Vorgärten der Einfamilienhäuser brodelte es doch immer. Es ist die morbide Faszination an Phänomenen, die reaktionär sind. So wie die lange Liste von Namen unter einer völlig nichtssagenden Erklärung 2018, eine Erklärung, mit der den Fragen dieser Welt nicht beizukommen ist, die trotz ihres Namens so tut, als gäbe es das Jahr 2018 nicht und als könnte man alles rückgängig machen, was einen selbst herausfordert. Dann entsteht da plötzlich der Vorwurf, diese Stimmen würden öffentlich geächtet – dabei ist doch das Gegenteil der Fall: Sie werden gehört, bepreist, gekauft. Sie machen es sich wohlig warm in einer Parallelrepublik, die sie zum Mainstream erheben und allen anderen in diesem Land möchten sie weismachen, sie seien eine Parallelgesellschaft.

Wie kann eine Literaturkonferenz wie »Ängst is now a Weltanschauung« dieser Entwicklung entgegenwirken?

»Ängst is now a Weltanschauung« zeigt das Junge in diesem Land, die Zukunft. Die Konferenz räumt mit dem albernen Vorwurf auf, linke Autoren und Denker positionierten sich nicht. Dieser Vorwurf ist schon eine Unverschämtheit an sich, weil alle, die seit Jahren schreiben, durch diesen Vorwurf weggewischt werden. Nur, weil sie vielleicht die alte Mehrheitsgesellschaft nicht hört und hören will. Am Ende warten doch selbst viele, die sich als Freunde der Vielfalt bezeichnen würden, auf die üblichen Stimmen zum Thema und sehen die Stimmen der jungen Generation mit Migrationsgeschichte eher als Grund zum Eigenlob: Schau, wir haben denen und deren Stimme jetzt Raum gegeben. Aber im Grunde orientieren auch sie sich an den etablierten Strukturen, die eher homogen sind. Gerne kommt so eine Offenheit gepaart mit Vorbehalten an der Identitätspolitik. »Spalte das nicht eher?«, fragen sie dann und meinen, man hört nicht heraus, dass sie ein Unbehagen haben mit der Differenz. Viele tun ja so, als würde Identitätspolitik die Differenzen, die sie angeht, erfinden, statt einen Weg zu suchen, mit den Folgen dieser Differenzen politisch umzugehen, indem sie sie klarer herausarbeiten. Es ist letztlich einfacher und angenehmer, jahrzehntelang über »die Fremden« zu reden und darüber, ob man sie Willkommen heißen soll oder eben nicht. Dass nun aber eine Generation herangewachsen ist, die eine andere Selbstverständlichkeit und Normalität im Umgang mit hybriden Identitäten hat, das werden sie noch zu spüren bekommen – auch durch Konferenzen wie diese.

An welchen wichtigen Stellen setzt die Konferenz Ihrer Meinung nach außerdem an?

Es gibt viele junge Deutsche, die sich weigern, sich zu Fremden machen zu lassen. Mit diesem Selbstbewusstsein haben dann so manche, die jahrzehntelang gönnerhaft sein konnten, so ihre Schwierigkeiten. Dass viele Kinder von Einwanderern mit »German Ängst« nichts anfangen können, weil sie mit dieser Form der Angst nie vorangekommen wären, weil sich ihr Leben halt nicht in Jugendstilwohnungen der schicken Vierteln abspielte, mit Aussicht auf das Erbe der Eltern und die Vorstadtvilla, dass ihr Leben auch ein Klassenkampf war, erschwert durch die rassistische Denkstruktur, die meinte, da unten sei doch der Platz der Einwanderer. Keine German Ängst bei uns, sondern ein Kampf um die Selbstverortung statt Fremdzuweisung. An all diesen Punkten setzt diese Konferenz an, weil sie selbst divers konzipiert ist und nicht ein Feigenblatt präsentiert, während im Publikum die Abonnenten von immer sitzen und sich weltoffen fühlen möchten für einen Abend. Nein, ich vermute, da sitzen jene, deren Welt schon offen ist und die sich fragen, wie sie diese Kraft nach außen tragen. Eine funktionale Parallelgesellschaft gewissermaßen (lacht).

Worin sehen sie Chancen einer Konferenz wie »Ängst is now a Weltanschauung«?

Die große Chance dieser Konferenz sehe ich darin, dass sie den Diskurs befreien kann von der Verengung, die ja der eigentliche Missstand ist. Chomsky sagte bei einem Vortrag einmal etwas wie: »Die Macht hat nicht der, der am Ende entscheidet, sondern jener, der entscheidet, welche Optionen zur Wahl stehen.« Die Optionen derzeit heißen: Ankerzentren, offene oder geschlossene Grenzen, Kontrollverlust und Bürokratieversagen. Und das in diesem Land, das noch immer mehr Wohlstand und Rechte bietet als die meisten anderen Länder der Welt. Ich hoffe, dass die Menschen sich hier bestätigen, dass sie in einer anderen Welt leben, als jene, die ihnen diskursiv gespiegelt wird. Ich hoffe, dass sie frei bleiben, sich nicht überorganisieren und doch öffentlich sichtbar machen. Was die kreativen Köpfe können, ist Aufmerksamkeit auf Themen lenken, man sollte jetzt nicht die Gremien und Arbeitsstrukturen von den große Schiffen nachahmen. Ein atmendes Geschöpf bleiben, das Worte finden kann, die Menschen bewegen – das wünsche ich mir. Und dass die Teilnehmenden nicht zulassen, dass man ihre Haltungen zur Welt marginalisiert, während man jedes Kaffeekränzchen von Rechten zu einer großen Bewegung hochschreibt.

Vielen Dank für das Interview, liebe Jagoda Marinić!



Juliane Noßack: treibt sich literarisch vielerorts im Netz herum. Seit 2014 bloggt sie über Literatur auf Poesierausch, während ihres Studiums der Angewandten Literaturwissenschaft an der FU Berlin leitete sie Litaffin. Gerade absolviert sie ein Volontariat im Verlagswesen und kümmert sich nebenbei noch um den open mike-Blog.